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Der amerikanische Psychiater Bessel van der Kolk ist Jahrgang 1943 und seit Jahrzehnten einer der renommiertesten Traumatherapeuten. Wie die meisten seiner Kollegen ging er zu Beginn seiner Karriere davon aus, dass vor allem Kriegsveteranen traumatisiert sind, in den Siebzigern entstand dafür die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung. Van der Kolks Verdienst war es, den Blick auf diese Erkrankung auszuweiten und zu erkennen, dass auch viele Menschen, die in ihrer Kindheit Missbrauch und Gewalt erfahren haben, betroffen sind. Sein 2014 veröffentlichtes Buch „Das Trauma in dir“ stand direkt nach Erscheinen in den Bestsellerlisten – und tauchte während der Corona-Pandemie erneut dort auf. Nun ist es als Taschenbuch bei Ullstein erschienen.

 

SZ: Manche bezeichnen die Pandemie als kollektives Trauma. War sie eines?

 

Bessel von der Kolk: Auf keinen Fall.

 

Warum nicht?

 

Die Pandemie wurde nicht von allen Menschen gleich erlebt. Für mich zum Beispiel war es nicht schrecklich. Ich habe ein schönes Haus, eine nette Frau, eine interessante Arbeit, die ich auch aus dem Home-Office erledigen konnte. Andere sind schwer erkrankt, haben geliebte Menschen und ihren Job verloren.

 

Der Begriff Trauma wird zunehmend für alles Mögliche verwendet, was unangenehm ist. Was ist Trauma nach Ihrer Definition?

 

Horror. Terror. Zusammenbruch.

Was muss passieren, damit ein schreckliches Erlebnis zum Trauma wird?

Gefühle von Machtlosigkeit und Verlassenheit müssen dazukommen. Menschen können viele schlimme Dinge überleben, wenn sie eine Gemeinschaft haben, die ihnen hilft, damit zurechtzukommen. Gibt es allerdings niemanden, der einen nach einer grauenhaften Erfahrung auffängt, wird einem womöglich nicht einmal geglaubt – dann wird ein Trauma daraus.

 

Behandelt werden Traumatisierte zumeist mit Medikamenten und Gesprächstherapie …

 

… bei uns Weißen, ja. In unserer Kultur.

 

Genau, ich bezog mich auf Deutschland und vermute, in den USA, wo Sie leben, ist es ähnlich.

 

Ja, wir reden viel, viel zu viel. Wenn wir ein Problem haben, wird endlos darüber gesprochen. Geht es uns noch schlechter, nehmen wir einen tiefen Zug aus der Flasche oder schlucken eine Pille. In anderen Ländern ist das anders. In China macht man Qi Gong, in Indien Yoga, andere Menschen joggen jeden Morgen. Es gibt andere Wege, mit emotionalen Zuständen umzugehen, als mit Worten und Chemie.

 

Beginnen wir mit Medikamenten. Warum heilen diese Ihrer Meinung nach kein Trauma?

 

Traditionelle Psychopharmaka können sehr wichtig und hilfreich sein, wenn jemand schwere Symptome hat. Aber sie tun eben nicht mehr, als Symptome zu lindern, sie lösen nichts.

 

Und wie ist es mit therapeutischen Gesprächen?

 

Zu wissen, warum alles falsch gelaufen ist, macht es nicht rückgängig. Es mag hilfreich sein, zu verstehen, welche Fehler man gemacht hat oder was man Schlimmes erlebt hat. Aber gelöst ist dadurch erst mal nichts. 

 

Damit es Menschen besser geht, müssen die Wege im Gehirn verändert werden, damit sie nicht mehr durch kleinste Reize in ihr traumatisches Erlebnis zurückgeworfen werden.

Sie müssen körperlich spüren, dass es Vergangenheit ist und dass sie jetzt sicher sind. Das klappt aber meist nicht, indem man nachdenkt und redet.

 

Dennoch haben viele Menschen heutzutage ein beinahe absolutes Vertrauen in Psychotherapie. Egal, was einen plagt, irgendjemand wird einem immer raten, doch mal darüber zu reden. Warum hilft das nicht?

 

Als Organismen reagieren wir auf viele Reize ganz unwillkürlich. Zum Beispiel zittern wir, wenn wir frieren. Das passiert ganz automatisch, da können wir bewusst kaum etwas steuern. Genauso ist es bei Dingen wie Müdigkeit, Hunger, sexueller Erregung. Eine Traumatisierung passiert auf diesem Level, es ist eine sehr primitive Reaktion, weswegen der Verstand hier nur ganz schwer eingreifen kann. Auch nach Hunderten Gesprächen nicht.

 

Sie empfehlen daher viele andere, ganzheitlichere Methoden zur Traumatherapie. Yoga zum Beispiel, Kampfsport, Tanzen und Theater. Wieso funktioniert das?

 

Wieso funktioniert darüber sprechen? Ich finde es immer interessant, dass in unserer Kultur überhaupt nicht angezweifelt wird, dass und wie Sprachtherapie funktioniert, während alles andere sich erst einmal rechtfertigen muss. Auch die Wirkung von Medikamenten wird kaum hinterfragt. Aber wissen Sie, wie zum Beispiel Prozac (eines der bekanntesten Antidepressiva, Anmerkung der Redaktion) wirkt?

 

Nicht genau.

 

Die Wirkweisen von Psychopharmaka sind sehr komplex, und unsere technischen Möglichkeiten im Moment erlauben uns nur teilweise, sie nachzuvollziehen. Trotzdem verschreiben Ärzte sie gerne, und Patienten nehmen sie, ohne die Wirkweise genau zu verstehen. Bei EMDR hingegen wollen sie genau wissen: Wie funktioniert das?

 

Was ist EMDR?

 

Es ist eine Methode, bei der der Therapeut die Augenbewegungen des Patienten mit der Hand führt, während dieser sich auf seine Erinnerungen konzentriert. Als ich damit angefangen habe, wusste niemand, wie es wirkt – nur, dass es wirkte. Inzwischen konnten wir zufällig mit bildgebenden Verfahren nachweisen, dass sich während einer EMDR-Sitzung die Hirnregion verändert, mit der man Zeit wahrnimmt. Das Verfahren scheint also dabei zu helfen, das traumatische Erlebnis als vergangen abzuspeichern. Auch Psychodrama, also therapeutisches Theaterspielen, ist unglaublich wirksam. Egal, ob man Szenen aus der Vergangenheit nachspielt und Mitpatienten Vater und Mutter darstellen lässt oder ob man echte Theaterstücke spielt: Durch das Einlassen in emotionale Zustände, die nicht die eigenen sind, passiert so viel bei den Betroffenen. Aber was genau im Gehirn abläuft, lässt sich kaum erforschen. Es ist ja nicht möglich, jemanden gleichzeitig Theaterspielen zu lassen und sein Gehirn zu scannen.

 Traumatherapeut Bessel van der KolkFoto: Boston Globe/Getty Images

Traumatherapeut Bessel van der Kolk

Was unterscheidet eine normale Erinnerung von einer traumatischen Erinnerung?

Erinnerungen sind Geschichten, die wir uns über uns selbst erzählen. Wir wissen, dass es in der Vergangenheit passiert ist, vergangene Woche oder auch vor drei Jahren oder in unserer Kindheit. Wir denken an das Erlebnis, wissen auch noch, wie wir uns damals gefühlt haben – jetzt fühlen wir das aber nicht. Traumatische Erinnerungen hingegen kommen als Zustände über uns, als Emotionen, und wir zeigen dieselben körperlichen Reaktionen wie damals in der Situation. Es kann sogar sein, dass wir die Erinnerung gar nicht als solche wahrnehmen, sondern uns plötzlich sehr wütend oder ängstlich oder machtlos fühlen, ohne genau zu wissen, warum. Das nennt man dann Flashback.

 

Manche traumatisierten Menschen wissen gar nicht mehr, was ihnen passiert ist, sie haben nur diese unerklärlichen Zustände. Wie kommt es dazu?

 

Ein schreckliches Erlebnis raubt erst mal allen die Sprache. Das sieht man in jeder Notaufnahme. Die Menschen, die dort nach Unglücken, Überfällen, Vergewaltigungen sitzen, sind alle erst mal katatonisch. Das heißt, sie bewegen sich nicht, sagen nichts, sind verkrampft. Manchen gelingt es mit Hilfe ihrer Familien und Gemeinschaften, dass aus dem Erlebnis eine Erinnerung wird. Anderen nicht.

 

Wenn Menschen dann in der Therapie versuchen, ihren Traumata auf die Spur zu kommen, sich zu erinnern: Können dabei auch eingebildete Erinnerungen an die Oberfläche kommen?

 

Die Frage nach der Wahrheit interessiert Gerichte, nicht Traumatherapeuten. Wieso sollten meine Patienten sich Geschichten ausdenken, unter denen sie leiden? Die sie so schmerzen, dass sie kaum aushalten, darüber zu sprechen? Das tun sie im Allgemeinen nicht.

 

Hatten Sie schon mal einen Patienten vor sich, bei dem Sie sich fragten, wovon diese Person glaubt traumatisiert zu sein?

 

Ganz am Anfang meiner Karriere hätte ich diese Frage mit Ja beantwortet.

 

Und heute?

 

Weiß ich, dass ich genauer hinschauen muss.

 

Wie sieht ein Leben mit Trauma aus?

 

Deutschland hat darin doch besonders viel Erfahrung. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren unglaublich viele Menschen traumatisiert, doch sie bauten trotzdem das Land wieder auf, heirateten, bekamen Kinder. Fast jede deutsche Familie kann daher von einem Opa erzählen, der nie über den Krieg sprach, aber unerklärliche Wutanfälle hatte, seine Frau schlug oder regelmäßig trank. Ihre Kinder wurden zu einer Generation, die zwar den Krieg nicht mehr selbst erlebt hat, aber unter diesen Eltern litt und nie gelernt hat, gut mit den eigenen Gefühlen umzugehen.

 

Und die Kinder dieser Kinder sind jetzt erwachsen und gehen in Scharen zu Therapeuten. Haben die psychischen Probleme der Enkelgeneration wirklich noch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun?

 

Oh ja, es gibt transgenerationales Trauma, und ich finde es faszinierend, wie Deutschland damit umgeht. Obwohl die Generation, die den Krieg erlebt hat, wenig darüber gesprochen hat, sind sich doch ihre Kinder und Enkel des kollektiven Kriegstraumas immer noch sehr bewusst und sie arbeiten daran. Das ist der Grund, warum Deutschland eines der freundlichsten Länder der Welt ist.

 

Ist es nicht übertrieben, wenn Menschen, die Jahrzehnte nach Kriegsende geboren sind, nun beim Therapeuten sitzen, während die Großeltern, die viel mehr gelitten haben, nie über ihr Erleben gesprochen haben?

 

Nein, das ist völlig logisch und hat seine Erklärung im menschlichen Bindungssystem. Für eine gesunde Entwicklung müssen sich Kinder bedingungslos geliebt fühlen, Eltern, die selbst traumatisiert sind, sind aber meistens wenig zuverlässige Bezugspersonen. Mal sind sie emotional distanziert, dann aufbrausend, dann plötzlich doch mal liebevoll, aber die Beziehung ist nicht stabil. So aufzuwachsen hat immense Auswirkungen aufs Selbstbewusstsein. Sich von den Eltern nicht geliebt zu fühlen, ist sehr schmerzhaft. Es ist kein Trauma, aber durchaus verwandt.

 

Muss man für eine psychische Krankheit eigentlich traumatisiert sein?

 

Nicht zwingend. Ich schätze aber, dass die meisten Psychiatriepatienten traumatisiert sind, ohne mich auf einen Prozentsatz festlegen zu wollen.

In Ihrem Buch „Das Trauma in dir“ beklagen Sie, dass über Trauma nur als psychiatrisches Phänomen gesprochen wird und zu wenig als politisches. Machen wir es anders: Wie müsste die Politik mit Traumata umgehen?

 

Deutschland hat das wirklich gut gemacht in den vergangenen Jahrzehnten. Die Deutschen sind viel weniger traumatisiert als noch vor einigen Generationen, auch weil sie ihre Kinder ganz anders behandeln als früher. Kinder bekommen heutzutage viel Aufmerksamkeit, ihnen wird zugehört. Eltern bemühen sich sehr, Sicherheit zu vermitteln, anstatt ständig zu drohen und zu strafen. Die ganze Kultur des Lernens hat sich völlig verändert, zum Glück. Und auf diese Weise ist die ganze Gesellschaft viel freier und freundlicher geworden.

 

Für die gesellschaftliche Traumaprävention fordern Sie kostenlose Kindertagesstätten und gute Schulen, Theaterkurse, Sportvereine und Tanzstunden. Während der Pandemie waren diese Dinge aber das Erste, was gestrichen wurde. Was hat das mit Kindern gemacht?

 

Mit manchen Kindern sehr viel, manchen gar nichts. Es kommt sehr darauf an, wer ihre Eltern sind und was diese Eltern während der Pandemie für sie tun konnten. Ich habe zwei Enkelkinder im Kindergartenalter. Die hatten während der Pandemie die Zeit ihres Lebens, alle Erwachsenen waren zu Hause, wir waren viel zusammen in der Natur. Viel schlimmer war es für ältere Kinder. Mit neun, zehn gehört es zur natürlichen Entwicklung, sich weniger an den Eltern und mehr an den Gleichaltrigen zu orientieren. Doch die waren nicht da. Oder die Jugendlichen, 16, 17 Jahre alt. Das ist die Zeit der Abgrenzung, der sexuellen Neugier. Das kann man aber nicht ausleben, wenn man bei den Eltern zu Hause sitzt. Auch für Erwachsene werden die Veränderungen der Pandemie langfristige, psychische Auswirkungen haben. Was wir beide hier machen – es ist ein Fluch und ein Segen.

 

Sie meinen, weil wir uns nicht treffen, sondern per Video miteinander sprechen?

 

Ja. Dass wir jetzt so miteinander sprechen können, trotz verschiedener Zeitzonen und Tausenden Kilometern Distanz, ist natürlich fantastisch. Aber so viele Kommunikationsebenen gehen dabei verloren. Wären Sie hier bei mir im Büro, müssten wir uns viel mehr aufeinander einstellen, es wäre ein ganz anderes Gespräch. Ich glaube, die immer stärker werdende Polarisierung erklärt sich auch damit, dass wir diese subtilen Verbindungen verloren haben. Es ist einfacher, Menschen zu dämonisieren, wenn man sie nie von Angesicht zu Angesicht trifft.

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